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36. Etappe Delémont - Moutier - Gänsbrunnen

19. Dezember - 20. Dezember 2022 (2 Tage)


Nur kurze Zeit und schon bin ich vom Bahnhof Delémont in den verschneiten Jura-Wäldern auf dem Weg Richtung Moutier, das ich zeitlich bis am Abend erreichen könnte.


Es gibt verschiedene Routen, ich wähle die landschaftlich interessantere, dafür auch die längere Route.


Ich lasse die letzten Siedlungen zurück und wandere durch eine wild-romantische Landschaft mit zeitweise grossartigem Panorama. Abgesehen von einigen Tierspuren, bleiben nur meine Fusspuren im Schnee zurück.



Plötzlich durchbricht ein lautes Grollen die Stille, ich blicke nach oben zu den Felsen und sehe, wie Steine in meine Richtung ins Rollen kommen…ein Felsbrocken rollt hinter mir vorbei, einer vor mir…was soll mir das sagen?! Ich gehe mit einer erhöhten Aufmerksamkeit weiter, etwas später rennen drei Rehe in Sichtweite durch den Wald...

Und jetzt ?! Der Weg endet hier...irgendwo muss ich vom Hauptweg abgekommen sein...wie weit müsste ich wieder zurückgehen?! Ich schaue runter ins Flusstal und entscheide, querfeldein durch den Wald zum Fluss hinabzusteigen. Was doch zu einer ziemlichen Rutschpartie auf dem -vom schmelzenden Schnee bedeckten- nassen Laub wird.




So, ich bin bei der Birse-Schlucht - zu Fuss geht es hier nicht mehr weiter...sowohl Eisenbahnlinie, als auch die Strasse verschwinden in Tunnel ...möchte ich zu Fuss weiter, geht dies nur über den Berg. Weit und breit kein Wanderwegschild. Ich blicke zurück, von wo ich gekommen bin...jetzt wieder alles zurück, den Wald hinauf?! Dann kann ich auch hier den Berg hinaufsteigen...nach einer Weile nähere ich mich dem Bergkamm und einige Zeit später treffe ich wieder auf einen Wanderweg - das war wohl eine Mischung aus guter Orientierungsintuition und Glück.




Schon eine recht abgelegene & unbewohnte Gegend; ich komme nur an zwei Höfen vorbei, wo aber niemand da ist. Die Farben des Abendhimmels nehmen mich in ihren Bann und schneller als ich reagieren kann, wird es dunkel. Die Wegmarkierungen liegen zu weit auseinander, als dass ich sie im Dunkeln sehen könnte; es gibt einige Pfade, welcher davon führt weiter nach Moutier ?! Ich probiere mal aus, nehme dann einen anderen...dann sehe ich ein Schild, noch 1 h 15 min. bis Moutier - für ein grosses Panache und ein warmes Essen ist es mir nach so einem langen Tag wert, mit der Stirnlampe weiter zu wandern.




Kaum entschieden, muss ich wieder nach dem Weg suchen - hier ist wohl schon länger niemand mehr gewandert…ich suche mit der Stirnlampe die Gegend ab und leuchte direkt in zwei Augen in der Ferne. Ein Wolf ?! Nein, die Silhouette sieht eher nicht danach aus...

…eine Mischung von „wowwhh..!“ Faszination und einem etwas mulmigen Gefühl …ich gehe weiter, schaue zurück und wieder schaue ich in die Augen, das Tier bleibt stehen, in meine Richtung zugewandt…ich gehe weiter, das Tier folgt mir, sobald ich mich umdrehe, bleibt es stehen und schaut zu mir…bei jedem Mal ist der Abstand zwischen uns geringer - ein Luchs! Ungewöhnlich, dass er nicht wegrennt…auch nicht, als ich ihm zurufe und mit einem Trekkingstock dem „geh weg!“ Nachdruck verleihe…es verunsichert mich zunehmend. Ignorieren und einfach weitergehen hat die Situation nicht verändert, ihn lautstark vertreiben auch nicht…jetzt ist mir gar nicht mehr wohl…vom Weg abgekommen, stockdunkel irgendwo im Wald, in dem mir ein Tier folgt…jedes Geräusch höre ich wie unter einem Verstärker…meine Gedanken sind nicht mehr so rational wie tagsüber, wo es mir wenig ausgemacht hat, stundenlang durch einsame Wälder zu gehen.


Nun mehr Angst als Freude, bei jedem Umdrehen ist er näher…bleibt stehen, spitzt die Ohren, schleicht sich wieder an…ein bedrohliches Gefühl, was da hinter meinem Rücken vor sich geht...ich biege in den dichteren Wald ab, er läuft nach, dicht hinter mir, ich quetsche mich in ein Dornengestrüpp, nehme den Rucksack ab und setze mich. Der Luchs läuft drum herum und platziert sich mit Blick zu mir ausserhalb des Gestrüpps. Bei jeder Bewegung meinerseits geht sein Kopf hoch…und jetzt ?! Irgendwann verzieht er sich vielleicht…ich warte, warte…und nun?! Es wird kälter, ich kann ja nicht die ganze Nacht hier hocken bleiben, wie wird er reagieren, wenn ich aus dem Gestrüpp rausgehe - und dann wie weiter?! Ich bin ja schon viele Male nachts in der Natur unterwegs gewesen, habe dabei so manche bekannte, aber auch schon mal eher unheimlich tönende Tiergeräusche gehört; ich habe hin und wieder mal von weitem in leuchtende Tieraugen geschaut; immer sind die Tiere dann weggelaufen. Dieses Verhalten ist mir fremd - der Luchs sucht meine Nähe - nur bin ich hier nicht in einem Walt Disney Film, wo ich dann mal über sein schönes Fell streicheln kann, wenn er zu mir kommt.

Ich gestehe mir ein, dass mir die Situation Angst macht…es ist stockdunkel, es ist kalt, seit am Mittag habe ich nichts mehr gegessen und bin durch einsame Wälder des Juras gewandert. Jetzt grade finde ich das nicht mehr so romantisch. Wissen ist ein Mittel gegen Angst vor unbekannten Situationen…; ich überlege mir Strategien, schalte mein Handy ein; gut, ich habe Empfang ! Wie komme ich zum Kontakt mit einem Wildhüter der Region?! Ich wähle die Nummer vom Polizei-Notruf: „Guten Abend, hier Frau…also es ist kein Scherz, aber ich bin in einer misslichen Lage- ich sitze in einem Dornenbusch und ein Luchs, der mich längere Zeit verfolgte, geht nicht mehr weg.

Können Sie mir einen Kontakt zu einem Wildhüter vermitteln? Eine sehr freundliche Polizistin stellt mir einige Fragen, während sie danach sucht, welcher Regional-Wildhüter Bereitschaftsdienst hat. Dann warte ich in der Leitung…die Polizistin teilt mir mit, dass der (nur französisch sprechende) Wildhüter bestätigt habe, dass das Verhalten des Luchses schon sehr ungewöhnlich sei…sie fragt mich, ob ich ihr meine Standortkoordinaten durchgeben könne und sie würde dann eine Patrouille vorbeischicken! Wie bitte ?- Nein, sicher nicht! Und denke dabei für mich „ich habe mir die Situation eingebrockt, dafür übernehme ich auch selbst Verantwortung - und die Vorstellung, dass da plötzlich die Polizei im Wald auftaucht, um eine Frau vor einem Luchs zu beschützen, finde ich irgendwie befremdend und lächerlich. Ich danke ihr für das Angebot und sage ihr, dass ich nun einfach mein Zelt aufstellen würde und wenn es wieder hell sei, könne ich wieder weiter wandern. Nun hat die Polizistin Mühe, mich mit der Situation- ausserdem sei es doch sehr kalt, etc.- alleine zu lassen. Nein, es ist wirklich o.k., ich melde mich sonst wieder, wenn ich Hilfe brauche.

Ich nehme mein Zelt aus dem Rucksack und eine Kerze, die ich anzünde…damit schaffe ich mich auf der anderen Seite von den leuchtenden Augen aus dem Gestrüpp und suche ein einigermassen flaches Stück Boden, auf dem ich mein Zelt aufstellen kann. Die brennende Kerze hat etwas Beruhigendes und das Zelt steht in Kürze. Ein Rundumblick mit der Stirnlampe, keine Augen zu sehen. Jetzt noch den Rucksack mit dem Restgepäck aus dem Busch holen. Mist, welcher der Dornensträucher war das jetzt noch mal?! Wie schlecht ist doch die Orientierung plötzlich in der Dunkelheit…immerhin kann ich langsam etwas über mich lachen, das aufgestellte Zelt gibt mir eine gefühlte Sicherheit. Endlich finde ich nach einer systematischen Suche den Rucksack im Gestrüpp! Ab ins Zelt…ich liege in meinem Schlafsack und denke „nur so ein bisschen Stoff“ …und schon bin ich wieder ziemlich entspannt. Mal schauen, was es da noch Essbares im Picknicksack gibt…der Tee reicht- gut eingeteilt - auch noch, bis ich morgen nach Moutier kommen werde.

In der Nacht höre ich öfter das Bellen von Rehen, das Knacken von Ästen, dann aber auch ein Geschrei...es könnten Füchse sein oder auch jenes von Luchsen, beides ähnelt sich.

Es ist bereits hell, so habe ich doch noch länger und tief schlafen können.

So sieht es hier also aus...gut, dass ich in der Nacht nicht mehr weiter gewandert bin...

denn jetzt gilt es erstmal wieder einen Weg zu finden, der nicht vor einem Steilhang endet, sondern nach Moutier führt. Inzwischen hat der Föhn den Schnee geschmolzen, ein warmer Wind bläst.



Überdimensional aufdringlich wird man beim Eintreten in die Fussgängerzone mit einem Propagandaschild "begrüsst" - immer noch ! Im Dezember 2022 ! Nur eine Bäckerei mit Cafeteria hat offen- Frühstück französischer Art: Quiche, Madeleine & Café.


Ich spaziere durch Moutier; vom Collégiale St-Germain hat man einen schönen Blick auf die Stadt und in die verschiedenen Täler. Ein warmer Föhnwind bläst in Kürze die restlichen Wolken vom Himmel - T-Shirt Wetter im Dezember! Ich packe meine Landkarte aus und plane meine weitere Route Richtung Solothurn. "Gänsbrunnen" ist eine gute Wanderdistanz für heute und es gibt dort einen Bahnhof.





Das Wetter, der gut bezeichnete, breite Wanderweg, ab und zu ein Dorf...es kommt mir vor wie ein Sonntagsspaziergang. In Crémines kehre ich spontan zum Mittagessen ein.

Ich habe Zeit, nur noch eine gute Stunde bis nach Gänsbrunnen.

Der Wanderweg führt direkt am Siky Tierpark vorbei. "Hier im Schweizer Tierrettungspark geben wir exotischen und einheimischen Tieren, die anderswo keinen Platz mehr finden, ein neues Zuhause." Das hört sich sympathisch an...ob die auch Luchse haben?!

Es ist kurz vor vier, bis nach Gänsbrunnen nur noch 20 min., da könnte ich doch zum Abschluss noch den Park anschauen...

Ich unterhalte mich mit dem Mann an der Kasse, frage nach einem Luchs und erzähle in Kurzvariante von meinem Erlebnis. Im Gespräch mit ihm erfahre ich auch, dass irgendwo in der Nähe der älteste Baum der Schweiz stehen würde. Er weiss nichts genaueres, für heute reicht die Zeit auch nicht mehr, danach zu suchen. Aber ich komme ja wieder, um meine Route fortzusetzen!


Grade habe ich den Löwen, die früher für Raubtiershows herhalten mussten, beim Fressen zugeschaut, da kommt ein Mann auf mich zu und fragt, ob ich die Frau mit der Luchs-Begegnung sei. Ich soll ihm doch genau erzählen, wie das war. In der Gegend gäbe es einige Luchse. Das Verhalten sei schon nicht natürlich, sondern das Ergebnis eines misslungenen Auswilderungs-Versuch. Eigentlich sollte der Luchs nicht versuchen, in Kontakt mit Menschen zu gehen, aber dieser verbinde den Menschen wohl noch damit, dass er von diesem Futter bekomme. Und jetzt sei Nahrungsknappheit für ihn.

Er werde das noch mit dem ansässigen Wildhüter besprechen.



Ich spaziere zum Gehege und beobachte im Hellen und aus der Nähe den Luchs... die Bewegungen, die Silhouette, die "gespitzten" Ohren, lassen das Gefühl vom gestrigen Abend nochmals lebendig werden. So schön anzusehen - jetzt ohne mulmiges Gefühl.


Beim Eindunkeln gehe ich weiter zum Bahnhof Gänsbrunnen, kurz darauf fährt der Zug ein...Schuhe aus, zurücklehnen, Augen schliessen und das Erlebte nochmal im Rückblick betrachten, während ich Strecken zurücklege, ohne selbst etwas dafür tun zu müssen...Erlebnisse, die in nachhaltiger Erinnerung bleiben !




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