15. November 2022 (1 Tag)
Manchmal muss ich vom Alltag -auch räumlich- Abstand nehmen, um in Ruhe nachdenken
zu können, anstatt mich mitreissen zu lassen von einer zur nächsten Empörungswelle gesellschaftlichen Treibens. So nehme ich mir den Freiraum, heute wieder ein Stück weiter zu gehen auf einem Weg, den ich selbst bestimme. Und bei dem ich die Verantwortung für mein Wohlbefinden selbst trage. Ich kann nur bedingt beeinflussen, was mir widerfährt und was in der Welt geschieht, aber ich kann wählen, wie ich darauf reagiere, was geschieht. Ich kann entscheiden, ob ich jedem Stöckchen, das irgendwer wirft, nachrenne oder nicht. So wie nun im Zug - ich greife nach der meistgelesenen Gratiszeitung der Schweiz - statt in 20 Minuten mache ich mir in 2 Minuten ein Bild davon, welches Framing die aktuellen Geschehnisse erhalten und wie man über diese zu denken hat. Möchte ich es zulassen, dass dies meine Stimmung bestimmt?!
Ich erlaube mir die Freiheit, selbst zu denken und belaste mich nicht weiter mit einer Zeitung, deren Wert maximal zum Anzünden eines Feuers reicht. Der Blick aus dem Fenster, indem mal mehr, mal weniger schnell, Landschaften an mir vorüberziehen, bringt mich zunehmend in das Gefühl einer Beobachterin. Und so wie ich das Vorüberziehende betrachte, breitet sich langsam eine Ruhe in meinen Gedanken aus. Auch diese kann ich vorüberziehen lassen, neue Gedanken entstehen und lösen sich wieder auf - ich gestalte meinen Umgang damit.
Ich komme an, im Thurgau...in der noch etwas nebelverhangenen Luft atme ich einen Geruch ein, der für mich untrennbar mit Herbst verbunden ist. Die Früchte an den unzähligen Bäumen, an denen ich in "Mostindien" vorbei wandere, sind bereits geerntet.
An einem Baum entdecke ich noch einen Apfel; so als sei er zurückgeblieben, damit ich mich nun darüber freuen kann - so lecker schmecken sie nur frisch gepflückt.
Mitten im November haben sich ein paar Löwenzahnblüten entschieden, den Herbst mit ein paar Farbakzenten zu bereichern...
ich komme an einem Hof vorbei und frage eine Frau, welche grade draussen ist, welchen Weg sie mir empfehlen kann, um zur Sitter zu gelangen. Wir unterhalten uns darüber hinaus über den Zeitgeist, welcher uns Menschen seit einiger Zeit zunehmend herausfordert und wie unterschiedlich die Menschen damit umgehen. Ich gehe weiter und spüre noch eine Weile der Begegnung, von der ich mich habe berühren lassen, nach.
Am Uferweg der Sitter lädt eine Hängeschaukel ein, sanft schwingend das idyllische Flusspanorama zu geniessen...
jemand hat sie dort am Baum angebunden und wohl nichts dagegen, dass ich sie benutze...als Dank hinterlasse stecke ich eine kleine handgeschriebene Botschaft in einer Schlaufe.
Nachmittag...ich erreiche Bischofszell, eine mittelalterliche Kleinstadt, welche schon im 18.Jhdt. durch die vielen barocken Gärten als Rosenstadt bezeichnet wurde. Von besonderer Architektur ist das Rathaus mit aufwändigen Stuckarbeiten und goldverzierten Schmiedegeländern. In einem von den zehn Rosenparks entdecke ich noch zwei prächtig blühende Rosen. In der Altstadt kehre ich ins Café Jordi ein und gönne mir eine längere Pause. Beim Bezahlen ergibt sich ein Gespräch mit der Inhaberin zum Bargeld, woraus eine Verabschiedung wird, die gegenseitig ein Gefühl von wachsamen "Gesinnungs-Genossinen" hinterlässt.
Über die "Krumme Brücke" wechsle ich die Flussseite und folge dem Wegweiser Richtung Weinfelden. Die achtjochige Brücke über die Thur ist die grösste, noch erhaltene, spätmittelalterliche Brücke der Schweiz. Der Sage nach hat eine Frau von Hohenzorn die steinerne Brücke für ihre zwei im Hochwasser ertrunkenen Söhne gestiftet. Anstelle eines sonst üblichen Brückenzolls sollte ein Vaterunser für alle Mütter der Welt gebetet werden. In einem stillen Alleinsein in landschaftlicher Idylle versunken, wandere ich am Fluss entlang, bis mir irgendwann auffällt, dass ich entgegen der Strömung gehe und dies geografisch nicht stimmen kann. Aber schön ist es, darum habe ich wohl zu wenig auf die Richtung geachtet.
Nun möchte ich nicht den ganzen Weg wieder zurück gehen; von weitem sehe ich einen Hof, dort könnte ich nach anderen Wegmöglichkeiten fragen. Ein junger Mann bietet mir an, dass er mich ein Stück mit dem Auto zu meiner Ausgangsposition mitnehmen könne.
So setze ich meinen Weg fort, wo ich etwa 1 ½ h zuvor schon war. Und folge stromabwärts dem Flusslauf.
Der nächste Bahnhof ist in Kradolf. Es wird langsam dunkel, ich gehe weiter im Lichtschein meiner Stirnlampe und erreiche gegen 18 Uhr den Bahnhof. Ich fahre nach Hause mit der Gewissheit, den Tag -im Aussen wie Innen- so verbracht zu haben, wie er sich für mich stimmig anfühlt.
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