18. Juli - 22. Juli 2022 (5 Tage)
Erneut ein heisser Tag, als ich gegen Mittag mit dem Bus in Veysonnaz ankomme...mein Weg setzt sich entlang von Suonen fort, die mehrheitlich durch Wälder führen und das Wandern sehr angenehm machen. Erstes Etappenziel: die Pyramiden von Euseigne...die Erdpyramiden bilden eine der bedeutendsten erdwissenschaftlichen Sehenswürdigkeiten der Alpen und sind entsprechend beeindruckend beim Betrachten.
Von hier aus möchte ich zur anderen Talseite; im Ort gibt es etliche Wegschilder, keines davon zeigt meine Destination. Ich folge einem Wanderschild, das zu einem kleinen Bach führt, danach aber nicht weiter anzeigt. So überquere ich barfuss den Bach, folge einem Trampelpfad, welcher jedoch an einem reissenden Fluss endet. Über diesen müsste ich, um auf die andere Talseite zu kommen, doch dies geht nur über eine Brücke, von der weit und breit nichts zu sehen ist. So gehe ich nochmals zurück, bis ich auf eine landwirtschaftliche Fahrstrasse komme. Ich habe Glück und es kommt bald ein Auto, das ich zum Fragen anhalten kann. Und so erfahre ich, wie ich zu der Brücke über den Fluss finde. Auf der anderen Talseite treffe ich wieder auf einen (wie es scheint wenig begangenen) Wanderweg. Nun gilt es erstmal über längere Zeit steil bergaufwärts zu wandern, bis ich zu einem Plateau komme, von dem ich einen wunderbaren Blick zurück zu den Pyramiden habe.
Eigentlich wollte ich nach St. Martin, doch finde ich einen perfekten Übernachtungsplatz in "Sevanna". Rund um einen grossen Brunnen sammeln sich ein paar Ferienhäuser, doch ausser mir ist niemand da. Bis es dunkel wird, habe ich noch genügend Zeit für mein Abendessen zuzubereiten und ein paar verschwitzte Kleider im Brunnen zu waschen.
Nach einer erholsamen Nacht, geht es gleich nach dem Zeltabbau nach Nax, ein idyllisches Walliser Dorf. Nach einem Einkauf im Dorfladen, Picknick und Erfrischung im Brunnen, mache ich mich gegen 11 Uhr auf den weiteren Weg. Wie des öfteren sind die Wegweiser im Dorf sehr eindeutig, manchmal "dubelsicher" platziert und an anderen Stellen fehlen sie.
Das führt diesmal dazu, dass ich in eine andere Richtung als geplant wandere; bis ich es realisiere, bin ich schon soweit gelaufen, dass ich keine Lust habe, wieder alles zurück zu wandern. Ich meine, ich könnte durch traversieren irgendwie doch noch auf den geplanten Weg kommen, was aber an Felsabbrüchen scheitert. Zuletzt bin ich etwa 3 h! (abzüglich den Heidelbeeren-Naschstops) umhergelaufen - wie auch immer ich es nennen mag - Umweg oder "Anders"-weg - ich bin genervt. Ich komme an einem nobleren Chalet vorbei, wo grade eine Familie auf der Terrasse sitzt...ich frage sie bzgl. dem Wanderweg. Sehr freundlich möchten sie mir Mineralwasser anbieten und auf Googlemap nachschauen; von der unmittelbaren Umgebung haben sie keine Ahnung. Ich verzichte gerne auf beides, finde dann kurz danach selbst einen Wegweiser und auch wieder einen Brunnen , um meine Trinkflasche aufzufüllen.
Vorbei an dahin plätschernd, erfrischenden Suonen, Weilern mit traditionellen Walliser Häusern, Kapellen...an einer kann ich noch selbst die Glocke läuten lassen...so schicke ich doch mal paar Klänge an jene nahe Menschen, die den Weg in eine Anderwelt bereits vorausgegangen sind...
Gegen 21 Uhr erreiche ich endlich - müde, sehr hungrig und mit schmerzhaften Füssen-meinen Zielort "Vercorin"; sofort kehre ich ins erste Restaurant, an dem ich vorbeikomme, ein. Ich schaue öfter zu einer Frau an einem Tisch und auch diese schaut mich öfter an, bis sie auf mich zukommt und mich anspricht. Tanja! ... eine Lehrerin mit der ich vor 19! Jahren, als ich an der Schule in Hochdorf Schulsozialarbeit einführte, gerne zusammengearbeitet habe. Freudig über das spontane Wiedersehen tauschen wir uns -im Zeitensprung- aus.
Inzwischen ist es dunkel, meine Batterien wieder einigermassen aufgeladen und ich brauche nur noch einen Schlafplatz. Diesen finde ich auf einer Wiese vor einem leerstehenden Ferienlagerhaus- mit Aussicht ins Rhonetal - jetzt erst mal nur die Lichter davon bei Nacht.
Mit dem Sonnenaufgang packe ich zusammen & spaziere durchs Dorf, ein Bäcker ist bereits geöffnet und mit frischem Walliser Roggenbrot frühstücke ich am Dorfbrunnen, bis ein Café öffnet...
Entlang eines Höhenweges wandere ich Orts-auswärts, doch bald habe ich das Gefühl, die Richtung passe nicht...nach etwa einer Dreiviertel Stunde Umweg (oder Zusatz- "Sightseeing"-Weg; hätte sonst nicht den schönen Schmetterling entdeckt) bin ich dann auf dem gewünschten Weg Richtung Grimentz. Am Eingang in den Schluchtweg warnt ein Schild davor, dass es bis nach Pinsec (ca. 3 h) weder zu essen, noch zu trinken gibt - insbesondere bei der Hitze wichtig zu beachten. An einer Wegverzweigung verweist eine Tafel auf eine "Buvette" ...da meine Trinkflasche nur noch halbvoll ist, nehme ich den Zusatzweg in Kauf. Es geht steil bergauf, so entscheide ich meinen Rucksack hinter Bäumen zu verstecken und beim Rückweg wieder zu nehmen, damit ich leichtgewichtig zur Alphütte springen kann.
...ein kleines paradiesisches Fleckchen, für die Dauer einer Cassis-Limo in der Hängematte relaxend, springe ich wieder bergabwärts, nehme den Rucksack und setze mit gefüllter Trinkflasche meinen Weg fort.
Die Zeit verfliegt in einem sehr abwechslungsreichen, faszinierend angelegten und stellenweise mit Seilen gesicherten Panoramaweg.
Ein beringter Kiefernbaum? Diese Ringe sind das Werk von Schwarzspechten, welche auf der Suche nach verborgenen Insekten unter der Baumrinde, den Stamm löchern. Aus den so entstehenden Wunden tritt Harz aus, der sich in ringförmigen Auswüchsen um den Stamm ablagert.
Kurz vor achtzehn Uhr erreiche ich Grimentz und kehre am Dorfeingang ins Restaurant ein. Es reicht grade noch für einen kurzen Spaziergang durch den Ortskern, bis das Gewitter loslegt...
während ich unter der gedeckten Terrasse ein köstliches Abendessen mit regionalem Wein geniesse, schaue ich dem Schauspiel von Blitz und Donner zu.
Hin und wieder gesellt sich der Besitzer zu mir und wir unterhalten uns. Er berichtet mir von grossem Unwetter mit Hagel im Jura, rund um Neuenburg sei die Autobahn gesperrt worden. Ich bin dankbar für das richtige Timing - zur rechten Zeit am geschützten Ort zu sein. Inzwischen beim leckersten frischen Walliser Aprikosencrumble (allein dafür schon eine Reise wert) schlemmend, kommt der Chef erneut zu mir - dass ich "irgendwo" draussen schlafen möchte, scheint ihn wohl doch zu beschäftigen...er bietet mir grosszügig an, mich zu seinem Maiensäss zu fahren, wo ich ein guter und geschützter Platz hätte, um mein Zelt aufzuschlagen. Neben seinem Hotel- und Gastrobetrieb hat er auch noch drei Kühe - es ist spürbar, wie verbunden er sich mit Grimentz - wo er auch aufgewachsen ist, fühlt. Bis der Regen vorüber ist, reden wir noch über die Region; meine Wanderroute, er gibt mir noch einige praktisch wertvolle Infos - und dann sind wir beim Wolf - also als Thema. Ja, rund um Grimentz sei er auch unterwegs, er habe sich rasch vermehrt, so 50 Wölfe seien schon im Wallis und die könnten zunehmend zur Gefahr werden. Seiner Frau, welche Pfifferlinge sammeln würde, sei es auch nicht mehr so wohl - sie habe zuletzt gemeint, sie würde künftig besser einen Stock mitnehmen...In einer kurzen Autofahrt bringt mich Clément oberhalb des Ortes zu seinem Maiensäss - auf einem kleinen Plateau mit Bellavista in alle Himmelsrichtungen und ins Tal, baue ich mein Zelt auf. Das Gewitter verschont mich, nur in der Ferne höre ich immer wieder ein Donnern, es ist frisch in der Nacht- ich hätte doch den wärmeren Schlafsack mitnehmen sollen...
Am Morgen spüre ich nahezu jeden Muskel, es ist bewölkt, die Motivation zum Wandern finde ich beim Zusammenpacken nicht - wo hat sie sich versteckt?! Irgendwie wäre es mir nun eher danach, in einem Wellnessbad zu relaxen, als über einen Pass zu wandern...
ich überlege - theoretisch könnte ich das Postauto im Dorf nehmen und nach Lenk ins Thermalbad fahren...so laufe ich erst mal den Berg runter ins Dorf in ein Café und frühstücke gemütlich. Der Himmel ist bewölkt, ich checke die Wettervorhersage, spaziere durch's Dorf und gehe bei der Touristeninfo vorbei, um mir noch Infos zu meiner geplanten Route zu holen.
Etwa eineinhalb Stunden wandere ich durch regenfrischen Wald, über eine Hängebrücke bis nach Ayer. Hier möchte ich neu entscheiden, ob ich das Postauto nehme oder über den Pass laufe...es ist bewölkt, ein weiteres Gewitter möglich.
Ich schaue auf den Wegweiser 4:00 h bis zum Forclettapass und dann muss ich da ja auch wieder auf der anderen Seite runter! Es ist kurz vor elf, ich entscheide mich dazu, meine Komfortzone zu verlassen und sage mir " einfach mal losgehen, bald kommst du dann an einem Schild vorbei, auf dem 2:55 h stehen wird und du denkst: ach, nur noch etwas mehr als 2 h, das geht schon..." ...schmunzelnd über meine versuchte Selbstmotivierung gehts bergauf...
Das gibts ja nicht! Da kommt doch tatsächlich ein Wegschild mit der Zahl 2:55 h! Aber es ist heiss und ich denke " fast noch 3 h! " Das kommt mir noch sehr lange vor...meine Motivation ist irgendwo im Tal steckengeblieben...so mache ich mal eine ausgiebige Picknickpause...
Und je länger ich laufe, umso mehr klärt sich der Himmel auf...
Die wunderschöne Weitsicht auf 4000 er und farbenprächtige Bergblumen lassen mich die Anstrengung vergessen...
...und auf der Passhöhe gibt es endlich die Walliser Nusstorte (schokolden-überzogen) aus Grimentz ! Mit dem Pass erreiche ich auch die Sprachgrenze zum deutschsprachigen Teil des Wallis.
1000 Höhenmeter steil bergab ins wildromantische Turtmanntal ...mit Weitblick zu majestätisch anmutenden Viertausendern, zum prächtigen Turtmanngletscher mit seinen Seen...vor 2 Jahren gab es hier einen gewaltigen Gletscherabbruch, welcher aus nächster Nähe gefilmt wurde (https://www.srf.ch/meteo/meteo-stories/turtmanngletscher-spektakulaerer-gletscherabbruch) ...
In steilem Zickzack geht es in den hintersten Ort des Tales - nach Gruben.
Der Rucksack drückt immer mehr auf
Schultern und Rücken; ich polstere ihn etwas mehr mit einem Handtuch...doch auch die Füsse beschweren sich zunehmend...irgendwann gelingt es mir, dass ich trotzdem in einen Flow komme, wo "es" einfach läuft...bis ich am Abend im Hotel Schwarzhorn ankomme.
Nach einem stärkenden Abendessen spaziere ich unter sternenklarem Himmel bis zum Spielplatz am Fluss, wo ich - von Holzhäuschen geschützt- mein Zelt aufstelle.
Auf etwa 1800 m ist es am Morgen recht frisch; mit einem Cappuccino auf der Terrasse des nahegelegenen Hotels warte ich, bis die ersten Sonnenstrahlen ins Tal scheinen und mache mich auf den Weg, meistens entlang der Turtmänna.
Es sind knapp 4 h aus dem Tal heraus bis zum Bahnhof in Turtmann. Das Tal ist sehr steil und wird -insbesondere wegen hoher Lawinenaktivität- vom Herbst bis zum Frühling komplett geschlossen.
Ich bin schon eine Weile unterwegs durch die wilde und vegetationsreiche Landschaft, ohne jemandem zu begegnen, als ich Ländlermusik höre...eine Alpwirtschaft? Das wär prima, denn ich habe nicht mehr viel in meiner Wasserflasche...es ist privat...aber ich werde von dem Besitzer spontan zu einem Panache eingeladen...er und seine Frau seien den ganzen Sommer (4 Monate) ohne Unterbruch hier, ansonsten leben sie in Zürich.
Er erzählt mir freudig, dass morgen sein Enkel aus Zürich in die Ferien komme...dabei strahlen seine Augen; doch dann legt sich ein Schatten darüber, als er sagt, dass seine Frau sehr krank sei. Im Herbst müsse sie wieder in die Röhre zur Kontrolle, wie es mit dem Krebs aussehe. Er ruft nach ihr und ich begrüsse eine von Krankheit geschwächte Frau. Unberührt von der zehrenden Erkrankung strahlt sie eine Herzenswärme aus. Berührt davon entsteht eine besondere Nähe...ihr gefällt mein Anhänger und sie möchte wissen, was es für ein Symbol sei. Die Blume des Lebens - hätte ich ihn nicht selbst geschenkt bekommen, würde ich ihn ihr gerne schenken...aber vielleicht habe ich mal noch eine Gelegenheit...wir unterhalten uns...ob ich auf ihre Frage hin sage, dass ich jeweils irgendwo (alleine) draussen schlafe? Statt sich deswegen zu sorgen, sagt sie "Sie gefallen mir!" Im Verlauf des weiteren Austausches erfahre ich, dass sie am 31. Dezember Geburtstag hat - dann, wenn ich meinen Pilgerweg mit der Ankunft zuhause beenden möchte. Dazu meint sie "dann denken wir aneinander!" Mit einer herzlichen Umarmung & ihrer Adresse verabschieden wir uns. Während sie sich ausruht, zeigt mir ihr Mann noch ganz stolz das grosse und das kleine Chalet, mit seinem Anwesen. Ich habe den Eindruck, ich sei in einem Volksbrauchtum-Museum gelandet. Und erst die Werkstatt - also wenn man mal eine Schraube benötigt, die man sonst nirgends findet, hat man hier beste Chancen.
Natürlich spreche ich auch ihn, über seine Erfahrungen und Ansichten zum Wolf, an...er lebt ja bereits seit seiner Kindheit im Turtmanntal. Einmal sei der Wolf auf einem Stein gestanden und habe zu ihm zum Chalet rübergeschaut; und vor wenigen Wochen sei ein junger Wolf im Stausee gelegen. Daraufhin seien Polizei, Staatsanwaltschaft etc. vor Ort gewesen, die hätten schier mehr Aufhebens betrieben, als wenn es ein Mensch gewesen sei. In dem Ausmass, wie sich der Wolf vermehre und zunehmend mehr Tiere reisse, würde er zum Problem.
Das geht mir auf meinem weiteren Weg alleine wandernd durch das wilde Turtmanntal nicht aus dem Kopf...ich stelle mir vor, irgendwo laufen da jetzt Wölfe rum, die mich vielleicht beobachten, die ich aber nicht sehen kann. Eine Mischung aus Faszination (würde ja schon gerne mal einen sehen) und mulmigem Gefühl, da ich gar nicht wüsste, wie ich reagieren würde...da spielen sicher noch die vielen Märchen mit, die ich als Kind gehört habe. Meine Mutter hatte ein gutes Gefühl dafür, was Kinder brauchen und so hatten wir eine Grimms Schallplattensammlung. Ich habe sie alle geliebt und später auch meinen Gottenkindern vorgelesen. Eines hatte "Der Wolf und die sieben Geisslein" als Favorit- das wurde danach auch immer noch szenisch gespielt. Sie wollte immer das kleine Geisslein sein, das im Uhrkasten nicht vom bösen Wolf gefunden wurde. Und ich durfte in einer Doppelrolle der böse Wolf und die Grossmutter spielen; naja, wenigstens habe ich dann wenigstens in einer Rolle überlebt. Dann gab es mal eine Zeit, als irgendwelche Intellektuelle der Ansicht waren, die Märchen seien zu brutal für Kinder und ausserdem würden Tiere wie "der böse Wolf" falsch dargestellt. Gut, dass sich die Märchenerzählerinnen wieder durchgesetzt haben! Warum schreibe ich das? Wie wir etwas beurteilen, hat mit unseren Prägungen und Erfahrungen zu tun. Ich habe keine direkten Erfahrungen im Umgang mit dem Wolf; ausser bei Wanderungen in Regionen, in denen er wieder lebt, habe ich keine Berührungspunkte mit ihm. Wie bilde ich mir meine Meinung dazu, wie man mit der Situation umgehen soll? Ihn, weil er ein schönes Lebewesen ist, schützen? Ihm eine Kreditkarte für Schafe schenken...den Menschen sagt man ja auch nicht "so, zu viel Tiere gegessen, jetzt erschiessen wir dich." Das ist nur eine Betrachtungs-weise...denn schliesslich reisst der Wolf auch reihenweise Tiere, die er nicht zum Fressen bräuchte und lässt diese teilweise halbtot zurück. Auch wenn der Bauer eine Entschädigung für die Opfertiere erhält, so können jene, die diese -von ihrem Schreibtisch aus- veranlassten Zahlungen in keiner Weise nachempfinden, was es für einen Bauer, der jedes seiner Tiere kennt, bedeutet, sie "so" vorzufinden. Wie sieht es mit dem Schutz dieser Tiere aus? Der Wolf hat in unserer Zivilisation keinen natürlichen Feind mehr, wie viel Wolf mag es vertragen? Und wer hat die Kompetenz, welche wichtiger als die Macht sein müsste, um darüber zu entscheiden?
Vom Wald komme ich in die weite Ebene des Rhonetals, vorbei an Rebbergen - auch die Trauben sind in diesem Dauersommer viel früher reif...die Hitze brennt, in meiner Wasserflasche ist nur noch die minimale "Notreserve", das Dorf schon in Sichtnähe. Dann nur noch auf einem schmalen Pfad den Felsvorsprung hinabsteigen...wenn mir nicht plötzlich ein Elektrozaun bis zur Kopfhöhe den Weg versperren würde! Da kommen tatsächlich keine Ziegen mehr drüber, aber ich auch nicht! Wer diesen mit neuen Spanngurten verschlossen hat, hat sich wohl nicht überlegt, dass er auch wieder geöffnet werden muss.
Jedes Mal, wenn ich versuche, den Spanngurt zu lösen, "fitzt" es mir eins - wie ich das hasse! Mein Ärger wächst bei jedem Versuch, den Zaun zu öffnen; es gibt auch nur diese Möglichkeit, weiterzukommen, da rundherum nur Felsabbruchkanten sind. Nach einer gefühlten halben Stunde mit Gedanken wie "das ist verantwortungslos, mitten durch den Wanderweg! Soll ich jetzt die Ortspolizei oder die Rega anrufen?! Das ist lächerlich, aber wie komme ich weiter ohne mich an dem Zaun zu verletzen? Ich schlage den Zaun mit meinen Stöcken einfach um, selber schuld, wenn die Ziegen weiträumig ihre Freiheit auskosten werden!" ... dann nehme ich mein Taschenmesser aus dem Rucksack - nein, ich mache den Zaun nicht kaputt, aber dank dessen kann ich die Spanngurte so lösen, dass ich nicht jedes Mal einen Stromschlag bekomme. Geschafft! Nicht nur von der Hitze schweissüberströmt, sage ich mir "scheissegal, in den ersten Dorfbrunnen gehe ich rein- "pfüdliblutt" (nackt), naja mit Unterwäsche - doch da stoppt mich der nächste Zaun! Ich fasse es nicht, es ist der gleiche, aber ein paar Kurven unterhalb - diesmal ohne Spanngurte und somit ohne Öffnung! Keine Chance, irgendwie daran vorbeizukommen...mit einem externen Kunststoffpflock ist er abgespannt. Wenn es mir gelingt, diesen zu lösen, kann ich den Elektrozaun mit den Wanderstöcken runterdrücken und darübersteigen. Gedacht, getan!
Endlich, der erste Brunnen! Er ist leer, komplett leer und ohne fliessendes Wasser! Wasserknappheit und erhöhter Bedarf für das Pfadi-Bundeslager in Goms.
Ich finde eine Bäckerei, kaufe das erste Wasser seit meiner ganzen Pilgerzeit, dazu etwas für den Zuckerhaushalt und für die Laune. Die kommt, nachdem auch der Durst gelöscht ist -und in Anbetracht des letzten Highlights für heute- wieder zurück. Ich deponiere meinen Rucksack im Laden und spaziere leichtfüssig zum in Dorfnähe liegenden Wasserfall. Ein wunderbar erfrischendes Bad im Wasser, dem ich vom Gletscher bis hierher gefolgt bin.
Welch' ein versöhnlicher und herr- äh- fraulicher Abschluss!
P.S.: Als ich aus dem Wasser komme, sind grade ein Mann und seine zwei Söhne zum Wasserfall gekommen...die Jungs machen "Schere, Stein, Papier", wer zuerst in den Pool springt...sie haben Spass und rufen vom Wasser aus immer wieder "Papi, komm auch!"
Er hält grade mal die Füsse rein; als ich ihn zur Erfrischung ermuntere, meint er nur "nein, zu kalt!" Mir kommt das Lied aus den 80ern von Ina Deter in den Sinn "Neue Männer braucht das Land" ...vielleicht brauchen wir statt Gender mal einen Weckruf an die archetypische Männlichkeit. "Würde mir besser gefallen..." denke ich, als ich zum Bahnhof nach Turtmann laufe und den Zug nach Hause nehme.
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