26. Oktober - 27. Oktober 2022 (2 Tage)
Ein verregneter Morgen, ich lasse mir Zeit in einem Café in der kleinen Ortschaft Stein, bis ich um die Mittagszeit starte.
Zunehmend lösen sich die Wolken auf, die feucht-kühle Luft verändert sich und die Sonne lässt rundherum alles in einem farbigeren Licht strahlen...manchmal braucht es so wenig, um sich an dem zu erfreuen, was einen umgibt. Moment - wer oder was sagt in mir, dass dies "wenig" ist ?! Gemessen an was ?! Je näher ich dies betrachte, umso grösser wird das Geschenk...der unendlich weite Himmel über mir und die Freiheit, selbst entscheiden zu können, wie, wo und mit wem ich heute meine Zeit verbringen möchte.
So kräftig leuchten die Hagebutten im Sonnenlicht; mein Vater sammelte sie jeweils nach dem ersten Frost, was sie besonders schmackhaft machte und zu meiner Lieblings-marmelade werden liess. Er entkernte jede einzelne Frucht, bevor sie in den Kochtopf kam!
Weite und Stille über Stunden hinweg, ohne jemandem zu begegnen...pilgere ich durchs Toggenburg...manchmal gedankenverloren, manchmal ganz frei von Gedanken...nur gehen, atmen und schauen...
Mit Blick auf den Säntis mache ich im Berggasthaus eine Rast und nehme einen kleinen Apéro, bis dass die Sonne untergeht und ich noch bis zum Eindunkeln weiter wandere. Inmitten einer kleinen Tannengruppe finde ich einen geschützten und idyllisch gelegenen Platz für mein Nachtlager. Das Zelt ermöglicht mir, draussen drinnen zu sein, was mir ein Gefühl von Geborgenheit und Freiheit zugleich schenkt. Es macht mich auf meinem Weg unabhängig von der Planung, eine Unterkunft aufsuchen zu müssen. Die Sterne meiner Nächte sind unbegrenzt. Und ich kann -losgelöst von Zeit und Wegstrecke- unterwegs sein.
Ein gemütliches Abendessen im Zelt erinnert mich an die vielen Hüttenbauten meiner Kindheit, in denen das Essen, was auch immer es war, irgendwie besser schmeckte als am gewöhnlichen Tisch. Und dann das Lesen mit der Taschenlampe, bis ich darüber einschlief. Heute habe ich viel Zeit zum Lesen, denn die Nacht ist sehr lang bis zum Tagesanbruch.
Nur das Öffnen des Reissverschlusses vom Zelt und ein Schritt trennt mich vom Draussensein mit einem wunderbaren Morgenrot...ich packe zusammen, werfe noch einen dankbaren Blick zurück auf den wunderbaren Platz der vergangenen Nacht am Fusse des Säntis. Es gehört zu meinem Ritual, mich bei jedem Platz, den die Natur mir grosszügig zur Verfügung stellt, zu bedanken. Je länger und intensiver ich im Austausch mit der Natur bin, umso deutlicher zeigen sich jene Plätze, die mir verlässlichen Schutz sowie wundervolle Aussichten gewähren.
Auf dem Weg zum Kronberg gibt es immer wieder Abschnitte, die mich durch Tannenwald führen...der Waldboden ist überdeckt von Wurzeln, über die ich laufen darf. Ein ganzes Wurzelgeflecht, ich tauche ein in Bilder meiner Wurzeln und spüre die Verbindung bis zu meinen Ahnen, die mir den Weg bereitet haben, den ich heute gehen kann. vieles, das wir als selbstverständlich gegeben nehmen, haben Menschen vor uns erschaffen und geschaffen; ermöglichen uns heute ein angenehmes Leben.
So vieles, für das meine Vorfahren gekämpft haben, darf ich heute als mein Recht in Anspruch nehmen. So vieles...wird mir bewusst, wofür ich meinen Ahnen dankbar bin. In unserer schnelllebigen, stets auf Fortschritt ausgerichteten Gesellschaft, haben wir das, was in den Generationen vor uns erschaffen wurde, leider nicht oder unzureichend wahrhaftig zu würdigen verstanden. Eine allzu menschliche Schwäche, dass einem der Wert von etwas erst dann bewusst wird, wenn der Verlust dessen droht.
Und während ich noch eine Weile über dies nachsinne, komme ich kurz vor dem Gipfel zu einer kleinen Hütte, bei der ein Brunnen noch fliessendes Wasser hat. Einmal waschen und dann erfrischt das Frühstück an der Sonne geniessen...den anschliessenden Café gibts später im Gipfelrestaurant.
Kronberg - Weitblick zum Bodensee mit Nebelkleid
Die Forschungsstelle Kraftorte Schweiz und die Luftseilbahn Jakobsbad-Kronberg haben aus der sehr besonderen Umgebung einen "Energieweg" erstellt. Verschiedene Texttafeln laden ein, in der Natur Analogien zum eigenen Lebensweg zu finden.
Vom Kronberg geht es auf dem Pfad des Jakobs-Pilgerweg zur Jakobskapelle. Bestens platziert mit wunderbarem Panoramablick in strahlendem Weiss, umrahmt von einem kräftig blauen Himmel...ich möchte die Tür öffnen, doch sie ist verschlossen. Mitten an einem sonnigen Herbsttag! Ein älteres Ehepaar kommt hinzu und sie sagen in einem Ton zwischen Ärger und Enttäuschung, dass schon bei ihrem letzten Besuch die Kapelle verschlossen gewesen sei...was denkt man sich dabei?! Nicht nur, dass man vor nicht allzu langer Zeit noch selektioniert hat, wer ein "Haus Gottes" betreten darf und wer nicht, verschliesst man es nun für alle am helllichten Tag...Ich kann gut darauf verzichten, denn, wenn ich Gott suchen möchte, denke ich nicht, dass er sich in einem Gebäude versteckt, dessen Geist so beschränkt gepflegt wird.
Ein Stück weiter des Weges entdecke ich bereits von weitem ein grosses Trampolin vorm einladend gelegenen Gasthaus Scheidegg. Ich hüpfe, bis ich mit jedem Sprung fröhlicher und vergnügter werde. Mit einer grösseren Leichtigkeit spaziere ich durch ein verwunschen anmutendes Hochmoor; prächtigste Herbstfarben verführen meine Augen zu einem Glanz, der mich sanftmütig lächeln lässt.
Auf dem Weg Richtung Appenzell holt mich ein Wanderer ein und spricht mich an, dass er mich beim Trampolinspringen gesehen hatte...wir wandern ein Stück gemeinsam und haben dabei einen schönen Austausch über das Unterwegssein in der Natur...
In Appenzell schlendere ich durch die historischen Gassen mit farbigen und traditionell verzierten Häusern und mache eine Rast bei Café und Kuchen.
Über den weitbekannten Landsgemeindeplatz, vorbei an der Appenzeller Brauerei, nehme ich den Höhenweg Richtung Teufen. Dabei immer wieder Ausblicke der Idylle zu den fürs Appenzellerland typischen Weilern.
...Begegnungen am Wegrand, ein Augen-Blick, der berührt...
Welche Künstler/innen-Hände haben diese schöne Naturgestaltung geformt? Ich gehe näher heran und schreite langsam hindurch - mit kindlicher Neugier von einer Welt in eine andere - mit der Vorstellung, dass dazwischen ein Wunsch liegt - auf der einen Seite das Sehnen, auf der anderen Seite der Zustand der Erfüllung.
Wie schon Albert Einstein sagte:
"Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt!"
Appenzell - Dörfer wie aus einem Bilderbuch -
Kurz vor 19 Uhr, inzwischen ist es dunkel und ich komme am Bahnhof Teufen an - die Zugfahrt nach Hause geniesse ich entspannt mit einem Reste-Picknick aus dem Rucksack.
Comments